Deutschlands Industrie investiert Milliardenbeträge in die Infrastruktur des Landes und ihrer Unternehmen. Softwareunternehmen müssen das nicht. Die Internetrevolution besteht nicht nur aus Google, Facebook und Instagram aus Kalifornien. Das sind im Prinzip große Medienunternehmen, die mit Kundendaten und Werbung ihr Geld verdienen. Doch die digitale Revolution findet nicht nur in der Kommunikation, sondern auch in der industriellen Produktion statt. Und diese umfasst eine weit größere Wertschöpfung als das Silicon Valley.
Fabrik der Zukunft
Die Digitalisierung der Fabrik hat längst begonnen. Und die Fabrik der Zukunft steht in Deutschland. „Industrie 4.0“ beschreibt die zukünftige Form der Industrieproduktion mit starker Individualisierung der Produkte unter den Bedingungen einer hoch flexibilisierten, ressourcen- und energieeffizienten Produktion, die weitgehende Integration von Kunden und Geschäftspartnern in dynamischen, echtzeitoptimierten Wertschöpfungsketten und die Verkopplung von Produktion und hochwertigen Dienstleistungen in sogenannte hybride Produkte.
Durch das Internet getrieben, wachsen reale und virtuelle Welt immer mehr zusammen. Die Verschmelzung der physikalischen Welt mit dem Cyberspace ist in der deutschen Industrie sehr weit gediehen. Dabei spielen eingebettete Systeme aus Elektronik und Software eine wichtige Rolle als maßgebliche Innovationstreiber für Export- und Wachstumsmärkte. Sie erweitern entscheidend die Funktionalität und damit den Gebrauchswert sowie die Wertschöpfung von Fahrzeugen, Flugzeugen, von medizinischen Geräten, von Produktionsanlagen und Haushaltsgeräten – Stichwort: Industrie 4.0 oder Industrial Internet.
Schon heute arbeiten etwa 98 Prozent der Mikroprozessoren eingebettet, über Sensoren und Aktoren mit der Außenwelt verbunden. Zunehmend werden sie untereinander und in das Internet vernetzt. Dabei entstehen Cyber-Physical Systems (CPS), die Teil einer zukünftig global vernetzten Welt sind, in der Produkte, Geräte und Objekte mit eingebetteter Hardware und Software über Anwendungsgrenzen hinweg interagieren. Mithilfe von Sensoren verarbeiten diese Systeme Daten aus der physikalischen Welt und machen sie für netzbasierte Dienste verfügbar, die durch Aktoren direkt auf Vorgänge in der physikalischen Welt einwirken können. Cyber-Physical Systems stellen die klassischen Branchen- und Fachdisziplingrenzen ebenso in Frage wie etablierte Geschäftsmodelle.
Künstliche Intelligenz
Die künstliche Intelligenz wird zunehmend zur Basistechnologie, die als Querschnittsfunktion alle Branchen der Wirtschaft erfasst und auf unterschiedliche Weise in jeder Branche zu unterschiedlichen Anwendungen, neuen Produkten und Services führt. Die anwendungsabhängige und hochgradig individualisierte Verwendung der künstlichen Intelligenz stellt die Designer, Innovations- und Digitalstrategen vor große Herausforderungen in ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet. Die Designdisziplin muss diese unterschiedlichen Erfahrungen und Aufgabenstellungen bündeln und vernetzen und die übergreifenden Anforderungen dieser Basistechnologien für die gesamte Wirtschaft definieren und Hilfestellung bei der Umsetzung in die unterschiedlichen Anwendungsszenarien der verschieden Branchen leisten. Damit leistet das Design einen erheblichen Beitrag bei der Entfesselung der großen Wachstumspotenziale der künstlichen Intelligenz.
Viele der neuen Produkte und Dienstleistungen, die im Zuge der Digitalisierung in Deutschland entstanden sind, sind auf einem sehr anspruchsvollem technischen Niveau, doch leider zu oft nur Insellösungen in geschlossen Ökosystemen oder auf proprietären Plattformen. Oft scheitern Kooperationen oder das Partnering unterschiedlicher Unternehmen an der bisherigen Struktur unserer Wirtschaft: Wem gehört der Kunde, wem gehört die Customer Experience?
Das gelungene Kundenerlebnis besteht aber für den Kunden in einer nahtlosen positiven User Experience über die gesamte Nutzung von Produkten und Dienstleistungen hinweg. Wenn verschiedene Anbieter an dem Kundenerlebnis beteiligt sind, dann scheitert die Interoperabilität oft daran, dass viele Beteiligten oft aus guten Gründen ihre Daten nicht untereinander austauschen. Damit entstehen an vielen Schnittstellen große Reibungsverluste, die die Nutzer frustrieren. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele aus dem Bereich der Mobilitätdienstleistungen, der Vernetzung von Automobilen mit Softwareunternehmen und Telematikdiensten, Insellösungen bei smart home, smart energy, smart city, etc..
Diese Reibungsverluste sind ein echtes Wachstumshemmnis für die Digitalisierung der Industrie und limitieren den Erfolg neuer Anbieter aus der aufsteigenden Digitalwirtschaft. Wir brauchen mehr Offenheit auf allen Seiten. Mehr offene Businessmodelle, mehr offene Plattformen. Die Designdisziplin sollte deshalb übergreifend neue Formen der Zusammenarbeit und Kooperation ausloten, die der wichtigen Forderung des Designs nach einer „seamless experience“ im Interesse der Nutzer und Kunden entspricht.
Design sorgt für die Stunde der Wahrheit
Innerhalb eines Unternehmens sind die Reibungsverluste ungleich höher. Besitzdenken, Hierarchien und Machtansprüche verhindern in grossen Unternehmen oft die Transparenz und die Zusammenarbeit. Formuliert in dieser alltäglichen Unternehmensrealität ein Designer einen umfassenden Gestaltungsanspruch, wird das häufig als unangemessenes Machtstreben missverstanden.
Designer sollten aber von Anfang an mit einbezogen werden. Viele Produkte und Dienstleistungen werden in großen Unternehmen in vertikalen Silos hergestellt, aber vom Kunden horizontal erlebt. Deshalb scheitern viele Produkte, weil sie den Tauglichkeitstest im Alltag des Kunden nicht bestehen, weil im Entwicklungsprozess niemand auf die Kundenperspektive geachtet hat. Im Designprozess materialisieren sich die ganzen Konflikte im Entwicklungsprozess und die Schwachstellen einer Business-Idee treten ans Tageslicht. Design ist die Stunde der Wahrheit.
Es liegt nicht unbedingt in der Natur eines Großunternehmens, sich und die Grundlagen seines Erfolges ständig neu zu erfinden. Im Gegenteil: Eigentlich ist es für ein Unternehmen völlig rational, sich nicht zu erneuern: Jede kleine Innovation ist zunächst eine Störung in einem hochkomplexen System, die zu einem Einbruch bei Produktivität und Qualität führen kann. Viel schlimmer ist jedoch eine große Innovation: Sie ist ein hoch riskantes Unterfangen. Denn die Kosten der Entwicklung des neuen Produkts sind berechenbar – die Erträge, die das neue Produkt auf den Märkten erzielen wird, hingegen noch nicht.
Noch schlimmer wird es, wenn Innovationen im Markt erfolgreich sind. Dann verhindern sie mit Sicherheit die nächste Innovation. Deshalb benötigt jedes Unternehmen eine verbindliche Innovations-Roadmap, an der auch trotz überwältigender Erfolge festgehalten wird.
Innovationen werden darüber hinaus in vielen Unternehmen auch als grundsätzliche Bedrohung wahrgenommen. Veränderungen werden blockiert, weil man Angst hat, bestehende Erlösstrome zu gefährden und die Machtbalance im Unternehmen zu stören. Eine Kultur des Misstrauens und der Abgrenzung verhindern dann systematisch den Erfolg neuer Ideen. Mangelnde interne Kooperation und eine disfunktionale Unternehmenskultur werden aber spätestens jetzt im digitalen Zeitalter zu einem echten Wettbewerbsnachteil.
Designer müssen führen
Um in einem Großunternehmen ein innovationsfreundliches Klima zu schaffen, müssen zuallererst bürokratische Hemmnisse abgebaut und Freiräume geschaffen werden. Denn ohne kreative Mitarbeiter, die sich wohl fühlen und entfalten können, gibt es in großen Unternehmen keine einzige Innovation, nicht einmal eine kleine Idee. Die Mitarbeiter benötigen in einem innovationsgetriebenen Unternehmen deshalb einen hohen Grad an Freiheit und vor allem einen freien Zugang zu gemeinsamen Wissensressourcen. Ein offener aber doch effizienter Innovationsprozess muss daher immer wieder rückgekoppelt, überdacht, korrigiert und revidiert werden.
Wenn Innovationen den Markterfolg eines Unternehmens treiben, wer treibt dann im Unternehmen die Innovationen strategisch voran und koppelt sie an die Lebenswelt der Kunden und Verbraucher? Das Design kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Design hat im Gegensatz zu jeder klassischen Unternehmensberatung die empirische Grundlage und die kreative Fantasie, die Zukunft zu beschreiben. Denn Design kennt die Bedürfnisse der Kunden und kann Szenarien für Anwendungen antizipieren und in Prototypen umsetzen, die in einem agilen Prozess immer wieder mit den Kundenbedürfnissen abgestimmt werden. Design baut nach außen Brücken zu den Kunden und ist intern der Schlüssel zur strategischen Steuerung von Innovationsprozessen in komplexen Strukturen. Und zwar nicht im klassischen Verständnis von Design, das Produkten eine Gestalt gibt und Technologien an den Schnittstellen zu den Menschen humanisiert, sondern Design als Kulturtechnik. Deshalb braucht Design in Unternehmen ein Vetorecht.
Mit Design als Kulturtechnik gelingt es überhaupt erst, alle Mitarbeiter in einer Organisation für Innovationen zu begeistern, ihnen Freiräume und Tools zu geben, damit sie kreatives und disruptives Denken wagen, zu Veränderungen bereit sind und auch das Risiko eingehen, zu scheitern.
Design Thinking hat diese Kulturtechnik für Unternehmen verfügbar gemacht und spielt in der Unternehmensstrategie von innovationsgetriebenen Konzernen oft eine führende Rolle. Wenn Design zu einer relevanten Säule der Unternehmensführung geworden ist, dann bekommt sie eine Leadership-Funktion.
Design-Leadership bedeutet, dass sich das Topmanagement systematisch mit dem Wandel und den Trends in Technologie und Gesellschaft auseinandersetzt und aus diesem Verständnis heraus neue Wachstumsmöglichkeiten und innovative Anwendungsmöglichkeiten entwickelt. Dazu kommt die Kernaufgabe jedes Unternehmers: die intelligente Kombination der kreativen Talente mit den nötigen Zukunftsinvestitionen.
Eine neue Rolle von Design im Unternehmen
Um diesen neuen Aufgaben gerecht zu werden, muss die Rolle des Designers im Unternehmen neue definiert werden: zum Begleiter für eine erfolgreiche digitale Transformation. Das Mindset von Design hilft dabei, Organisationen und Systeme zu hinterfragen, neu zu denken und in iterativen Schleifen weiterzuentwickeln oder komplett neu aufzusetzen. Die Bereitschaft für dieses Denken muss in Unternehmen allerdings erstmal geschaffen werden. In diesem Prozess befindet sich die Wirtschaft gerade. So stocken Unternehmensberatungen mit Zukäufen oder Neugründungen an Design auf, weil sie merken, dass sie diese Kompetenzen benötigen, um ihre Auftraggeber umfassend und vor allem nachhaltig zu beraten. Denn mit einem zweitägigen Workshop in Design Thinking ist es nicht getan.
Digital System Design
Digital System Design ist daher besonders in großen und komplexen Organisationen gefragt, in denen viele Abteilungen an unterschiedlichen Produkten und Services arbeiten. Diesen Konzernen fällt es häufig besonders schwer, ihre Mitarbeiter interdisziplinär zu vernetzen – auch weil das traditionell gewachsene Organigramme und Prozesse infrage stellt, die bis zur Digitalisierung hervorragend funktioniert haben. Doch mit dem Anbruch eines neuen Zeitalters sind neue Herangehensweisen und auch ein neues Selbstverständnis erforderlich. Diese gilt es zu finden und zu etablieren.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Designer an der Formgebung einzelner Produkte arbeiteten, heute geht es um die Gestaltung ganzheitlicher Customer Experiences. Diese Aufgaben sind komplex und anspruchsvoll und sprengen die Grenzen tradierter Grenzen der Designausbildung. Schon lange verschmelzen die Grenzen zwischen Produkt-Design und Kommunikation in den digitalen Anwendungsfeldern. Um ein nahtloses und im besten Falle begeisterndes Kundenerlebnis zu gestalten, braucht es aber noch mehr als schöne Oberflächen – und auch mehr als gutes Interaction Design.
Die Customer Experience hat nicht mehr allein mit dem Produkt oder Service zu tun, sondern ist das Ergebnis der Struktur und des Systems dahinter. Um diese ganzheitlich betrachten zu können, müssen Gestalter unternehmerische Prozesse und Infrastrukturen betrachten und verstehen – natürlich ohne dabei den Kunden aus dem Blick zu verlieren. Die Lösung liegt unter anderem in einer effektiven Designführung, die das Kundenerlebnis über alle Touchpoints hinweg plant und ein System gestaltet, das die Anschlussfähigkeit der internen Gewerke bewusst steuert.
Der Designer hat vor diesem Hintergrund nicht nur die Aufgabe, in den digitalen Welten die pain points in der Customer Journey flexibel und effizient zu beseitigen. Um der neuen Rolle des Industrial Designs in der Industrie gerecht zu werden, muss die qualifizierte Ausbildung aufgerüstet und mit einem breiten intellektuellen Fundus unterlegt werden. Dann werden Designer nicht nur zu den Architekten des digitalen Wandels sondern können auch heute noch große Momente der Sinnstiftung erschaffen und Technologien radikal humanisieren.
Essay von Philipp Thesen
Erschienen in »Transforming Industrial Design«, 2019
Deutschlands Industrie investiert Milliardenbeträge in die Infrastruktur des Landes und ihrer Unternehmen. Softwareunternehmen müssen das nicht. Die Internetrevolution besteht nicht nur aus Google, Facebook und Instagram aus Kalifornien. Das sind im Prinzip große Medienunternehmen, die mit Kundendaten und Werbung ihr Geld verdienen. Doch die digitale Revolution findet nicht nur in der Kommunikation, sondern auch in der industriellen Produktion statt. Und diese umfasst eine weit größere Wertschöpfung als das Silicon Valley.
Fabrik der Zukunft
Die Digitalisierung der Fabrik hat längst begonnen. Und die Fabrik der Zukunft steht in Deutschland. „Industrie 4.0“ beschreibt die zukünftige Form der Industrieproduktion mit starker Individualisierung der Produkte unter den Bedingungen einer hoch flexibilisierten, ressourcen- und energieeffizienten Produktion, die weitgehende Integration von Kunden und Geschäftspartnern in dynamischen, echtzeitoptimierten Wertschöpfungsketten und die Verkopplung von Produktion und hochwertigen Dienstleistungen in sogenannte hybride Produkte.
Durch das Internet getrieben, wachsen reale und virtuelle Welt immer mehr zusammen. Die Verschmelzung der physikalischen Welt mit dem Cyberspace ist in der deutschen Industrie sehr weit gediehen. Dabei spielen eingebettete Systeme aus Elektronik und Software eine wichtige Rolle als maßgebliche Innovationstreiber für Export- und Wachstumsmärkte. Sie erweitern entscheidend die Funktionalität und damit den Gebrauchswert sowie die Wertschöpfung von Fahrzeugen, Flugzeugen, von medizinischen Geräten, von Produktionsanlagen und Haushaltsgeräten – Stichwort: Industrie 4.0 oder Industrial Internet.
Schon heute arbeiten etwa 98 Prozent der Mikroprozessoren eingebettet, über Sensoren und Aktoren mit der Außenwelt verbunden. Zunehmend werden sie untereinander und in das Internet vernetzt. Dabei entstehen Cyber-Physical Systems (CPS), die Teil einer zukünftig global vernetzten Welt sind, in der Produkte, Geräte und Objekte mit eingebetteter Hardware und Software über Anwendungsgrenzen hinweg interagieren. Mithilfe von Sensoren verarbeiten diese Systeme Daten aus der physikalischen Welt und machen sie für netzbasierte Dienste verfügbar, die durch Aktoren direkt auf Vorgänge in der physikalischen Welt einwirken können. Cyber-Physical Systems stellen die klassischen Branchen- und Fachdisziplingrenzen ebenso in Frage wie etablierte Geschäftsmodelle.
Künstliche Intelligenz
Die künstliche Intelligenz wird zunehmend zur Basistechnologie, die als Querschnittsfunktion alle Branchen der Wirtschaft erfasst und auf unterschiedliche Weise in jeder Branche zu unterschiedlichen Anwendungen, neuen Produkten und Services führt. Die anwendungsabhängige und hochgradig individualisierte Verwendung der künstlichen Intelligenz stellt die Designer, Innovations- und Digitalstrategen vor große Herausforderungen in ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet. Die Designdisziplin muss diese unterschiedlichen Erfahrungen und Aufgabenstellungen bündeln und vernetzen und die übergreifenden Anforderungen dieser Basistechnologien für die gesamte Wirtschaft definieren und Hilfestellung bei der Umsetzung in die unterschiedlichen Anwendungsszenarien der verschieden Branchen leisten. Damit leistet das Design einen erheblichen Beitrag bei der Entfesselung der großen Wachstumspotenziale der künstlichen Intelligenz.
Viele der neuen Produkte und Dienstleistungen, die im Zuge der Digitalisierung in Deutschland entstanden sind, sind auf einem sehr anspruchsvollem technischen Niveau, doch leider zu oft nur Insellösungen in geschlossen Ökosystemen oder auf proprietären Plattformen. Oft scheitern Kooperationen oder das Partnering unterschiedlicher Unternehmen an der bisherigen Struktur unserer Wirtschaft: Wem gehört der Kunde, wem gehört die Customer Experience?
Das gelungene Kundenerlebnis besteht aber für den Kunden in einer nahtlosen positiven User Experience über die gesamte Nutzung von Produkten und Dienstleistungen hinweg. Wenn verschiedene Anbieter an dem Kundenerlebnis beteiligt sind, dann scheitert die Interoperabilität oft daran, dass viele Beteiligten oft aus guten Gründen ihre Daten nicht untereinander austauschen. Damit entstehen an vielen Schnittstellen große Reibungsverluste, die die Nutzer frustrieren. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele aus dem Bereich der Mobilitätdienstleistungen, der Vernetzung von Automobilen mit Softwareunternehmen und Telematikdiensten, Insellösungen bei smart home, smart energy, smart city, etc..
Diese Reibungsverluste sind ein echtes Wachstumshemmnis für die Digitalisierung der Industrie und limitieren den Erfolg neuer Anbieter aus der aufsteigenden Digitalwirtschaft. Wir brauchen mehr Offenheit auf allen Seiten. Mehr offene Businessmodelle, mehr offene Plattformen. Die Designdisziplin sollte deshalb übergreifend neue Formen der Zusammenarbeit und Kooperation ausloten, die der wichtigen Forderung des Designs nach einer „seamless experience“ im Interesse der Nutzer und Kunden entspricht.
Design sorgt für die Stunde der Wahrheit
Innerhalb eines Unternehmens sind die Reibungsverluste ungleich höher. Besitzdenken, Hierarchien und Machtansprüche verhindern in grossen Unternehmen oft die Transparenz und die Zusammenarbeit. Formuliert in dieser alltäglichen Unternehmensrealität ein Designer einen umfassenden Gestaltungsanspruch, wird das häufig als unangemessenes Machtstreben missverstanden.
Designer sollten aber von Anfang an mit einbezogen werden. Viele Produkte und Dienstleistungen werden in großen Unternehmen in vertikalen Silos hergestellt, aber vom Kunden horizontal erlebt. Deshalb scheitern viele Produkte, weil sie den Tauglichkeitstest im Alltag des Kunden nicht bestehen, weil im Entwicklungsprozess niemand auf die Kundenperspektive geachtet hat. Im Designprozess materialisieren sich die ganzen Konflikte im Entwicklungsprozess und die Schwachstellen einer Business-Idee treten ans Tageslicht. Design ist die Stunde der Wahrheit.
Es liegt nicht unbedingt in der Natur eines Großunternehmens, sich und die Grundlagen seines Erfolges ständig neu zu erfinden. Im Gegenteil: Eigentlich ist es für ein Unternehmen völlig rational, sich nicht zu erneuern: Jede kleine Innovation ist zunächst eine Störung in einem hochkomplexen System, die zu einem Einbruch bei Produktivität und Qualität führen kann. Viel schlimmer ist jedoch eine große Innovation: Sie ist ein hoch riskantes Unterfangen. Denn die Kosten der Entwicklung des neuen Produkts sind berechenbar – die Erträge, die das neue Produkt auf den Märkten erzielen wird, hingegen noch nicht.
Noch schlimmer wird es, wenn Innovationen im Markt erfolgreich sind. Dann verhindern sie mit Sicherheit die nächste Innovation. Deshalb benötigt jedes Unternehmen eine verbindliche Innovations-Roadmap, an der auch trotz überwältigender Erfolge festgehalten wird.
Innovationen werden darüber hinaus in vielen Unternehmen auch als grundsätzliche Bedrohung wahrgenommen. Veränderungen werden blockiert, weil man Angst hat, bestehende Erlösstrome zu gefährden und die Machtbalance im Unternehmen zu stören. Eine Kultur des Misstrauens und der Abgrenzung verhindern dann systematisch den Erfolg neuer Ideen. Mangelnde interne Kooperation und eine disfunktionale Unternehmenskultur werden aber spätestens jetzt im digitalen Zeitalter zu einem echten Wettbewerbsnachteil.
Designer müssen führen
Um in einem Großunternehmen ein innovationsfreundliches Klima zu schaffen, müssen zuallererst bürokratische Hemmnisse abgebaut und Freiräume geschaffen werden. Denn ohne kreative Mitarbeiter, die sich wohl fühlen und entfalten können, gibt es in großen Unternehmen keine einzige Innovation, nicht einmal eine kleine Idee. Die Mitarbeiter benötigen in einem innovationsgetriebenen Unternehmen deshalb einen hohen Grad an Freiheit und vor allem einen freien Zugang zu gemeinsamen Wissensressourcen. Ein offener aber doch effizienter Innovationsprozess muss daher immer wieder rückgekoppelt, überdacht, korrigiert und revidiert werden.
Wenn Innovationen den Markterfolg eines Unternehmens treiben, wer treibt dann im Unternehmen die Innovationen strategisch voran und koppelt sie an die Lebenswelt der Kunden und Verbraucher? Das Design kann dabei eine wichtige Rolle spielen. Design hat im Gegensatz zu jeder klassischen Unternehmensberatung die empirische Grundlage und die kreative Fantasie, die Zukunft zu beschreiben. Denn Design kennt die Bedürfnisse der Kunden und kann Szenarien für Anwendungen antizipieren und in Prototypen umsetzen, die in einem agilen Prozess immer wieder mit den Kundenbedürfnissen abgestimmt werden. Design baut nach außen Brücken zu den Kunden und ist intern der Schlüssel zur strategischen Steuerung von Innovationsprozessen in komplexen Strukturen. Und zwar nicht im klassischen Verständnis von Design, das Produkten eine Gestalt gibt und Technologien an den Schnittstellen zu den Menschen humanisiert, sondern Design als Kulturtechnik. Deshalb braucht Design in Unternehmen ein Vetorecht.
Mit Design als Kulturtechnik gelingt es überhaupt erst, alle Mitarbeiter in einer Organisation für Innovationen zu begeistern, ihnen Freiräume und Tools zu geben, damit sie kreatives und disruptives Denken wagen, zu Veränderungen bereit sind und auch das Risiko eingehen, zu scheitern.
Design Thinking hat diese Kulturtechnik für Unternehmen verfügbar gemacht und spielt in der Unternehmensstrategie von innovationsgetriebenen Konzernen oft eine führende Rolle. Wenn Design zu einer relevanten Säule der Unternehmensführung geworden ist, dann bekommt sie eine Leadership-Funktion.
Design-Leadership bedeutet, dass sich das Topmanagement systematisch mit dem Wandel und den Trends in Technologie und Gesellschaft auseinandersetzt und aus diesem Verständnis heraus neue Wachstumsmöglichkeiten und innovative Anwendungsmöglichkeiten entwickelt. Dazu kommt die Kernaufgabe jedes Unternehmers: die intelligente Kombination der kreativen Talente mit den nötigen Zukunftsinvestitionen.
Eine neue Rolle von Design im Unternehmen
Um diesen neuen Aufgaben gerecht zu werden, muss die Rolle des Designers im Unternehmen neue definiert werden: zum Begleiter für eine erfolgreiche digitale Transformation. Das Mindset von Design hilft dabei, Organisationen und Systeme zu hinterfragen, neu zu denken und in iterativen Schleifen weiterzuentwickeln oder komplett neu aufzusetzen. Die Bereitschaft für dieses Denken muss in Unternehmen allerdings erstmal geschaffen werden. In diesem Prozess befindet sich die Wirtschaft gerade. So stocken Unternehmensberatungen mit Zukäufen oder Neugründungen an Design auf, weil sie merken, dass sie diese Kompetenzen benötigen, um ihre Auftraggeber umfassend und vor allem nachhaltig zu beraten. Denn mit einem zweitägigen Workshop in Design Thinking ist es nicht getan.
Digital System Design
Digital System Design ist daher besonders in großen und komplexen Organisationen gefragt, in denen viele Abteilungen an unterschiedlichen Produkten und Services arbeiten. Diesen Konzernen fällt es häufig besonders schwer, ihre Mitarbeiter interdisziplinär zu vernetzen – auch weil das traditionell gewachsene Organigramme und Prozesse infrage stellt, die bis zur Digitalisierung hervorragend funktioniert haben. Doch mit dem Anbruch eines neuen Zeitalters sind neue Herangehensweisen und auch ein neues Selbstverständnis erforderlich. Diese gilt es zu finden und zu etablieren.
Vorbei sind die Zeiten, in denen Designer an der Formgebung einzelner Produkte arbeiteten, heute geht es um die Gestaltung ganzheitlicher Customer Experiences. Diese Aufgaben sind komplex und anspruchsvoll und sprengen die Grenzen tradierter Grenzen der Designausbildung. Schon lange verschmelzen die Grenzen zwischen Produkt-Design und Kommunikation in den digitalen Anwendungsfeldern. Um ein nahtloses und im besten Falle begeisterndes Kundenerlebnis zu gestalten, braucht es aber noch mehr als schöne Oberflächen – und auch mehr als gutes Interaction Design.
Die Customer Experience hat nicht mehr allein mit dem Produkt oder Service zu tun, sondern ist das Ergebnis der Struktur und des Systems dahinter. Um diese ganzheitlich betrachten zu können, müssen Gestalter unternehmerische Prozesse und Infrastrukturen betrachten und verstehen – natürlich ohne dabei den Kunden aus dem Blick zu verlieren. Die Lösung liegt unter anderem in einer effektiven Designführung, die das Kundenerlebnis über alle Touchpoints hinweg plant und ein System gestaltet, das die Anschlussfähigkeit der internen Gewerke bewusst steuert.
Der Designer hat vor diesem Hintergrund nicht nur die Aufgabe, in den digitalen Welten die pain points in der Customer Journey flexibel und effizient zu beseitigen. Um der neuen Rolle des Industrial Designs in der Industrie gerecht zu werden, muss die qualifizierte Ausbildung aufgerüstet und mit einem breiten intellektuellen Fundus unterlegt werden. Dann werden Designer nicht nur zu den Architekten des digitalen Wandels sondern können auch heute noch große Momente der Sinnstiftung erschaffen und Technologien radikal humanisieren.
Essay von Philipp Thesen
Erschienen in »Transforming Industrial Design«, 2019
Philipp Thesen bietet Beratung zu Design und Strategie, Innovation und digitaler Veränderung an. Bei Interesse an einer Zusammenarbeit nehmen Sie gerne Kontakt auf:
Mail: office@philippthesen.com
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